Musik | Hörtest

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R.E.M. – Automatic For The People

29. Oktober 2024
von Moritz Morsch

Trigger Warnung: Suizid

 

1992 ist in der Musik ein Jahr der Umbrüche: Während im Vorjahr Nirvana mit Nevermind den schnellen, aber wohlverdienten und lange überfälligen Tod des Hair Metal herbeiführten, landete Grunge nun vollends im Mainstream – sehr zum Leidwesen der Mötley Crües dieser Welt. Am Ende siegen eben immer die Guten. Soweit die Legende.

Was dabei nicht mehr im kollektiven Gedächtnis ist, ist, dass es bereits in den 80ern unangepasste Kids gab, die der etablieren Rockmusik wenig abgewinnen konnten und unbeirrt ihren eigenen Weg gingen. Besonders die Szene in der ansonsten sehr verschlafenen College-Stadt Athens in Georgia spielte dabei eine zentrale Rolle. So gründeten sich dort Ende der 70er zwei Indierock-Urgesteine: Die B-52s und R.E.M. (letztere gilt für einige sogar als Begründer des Indierocks als solchem). Sehr beeinflusst vom New Wave der Talking Heads oder The Cars erspielen sich R.E.M. zunächst eine treue Fanbase in und um Athens, bevor sie zu nationaler Bekanntheit kamen. Das Kalkül der Band ging dabei voll auf: Sie bietet Jangle Pop für jeden The Smiths-Fan, und darüber hinaus werden, dank den lebensbejahenden und bisweilen dadaistischen Texten von Frontmann Michael Stipe, auch diejenigen abgeholt, die The Smiths zwar musikalisch mögen, aber mit deren Frontmann Morrissey wenig anfangen können.

Es blieb jedoch nicht alles Indie: Nach fünf Alben und dem frühen R.E.M.-Meisterwerk Document verließ die Band 1988 ihr Indie-Label I.R.S. und heuerte beim Major Warner an. Was bei anderen Bands als Ausverkauf gewertet werden würde, bewahrheitete sich bei R.E.M. nicht: Gleich auf ihrem ersten Major-Album, Green, finden drei Lieder Platz, die nur von Mandolinen begleitet werden und so gar nicht dem entsprechen, was man von den vier Indierockern erwartet hatte. Diese Unangepasstheit zeigte sich auch im nächsten Album, Out Of Time, welches noch mehr verdeutlichte, dass sich die Band stilistisch in einer Umbruchphase befand (und mit Losing My Religion einen Hit hervorbrachte, mit dem weder Band noch Label rechneten.)

Was folgte, war ihr nie wieder erreichtes Meisterwerk: Automatic For The People. Allein schon beim Opener Drive merkt man, dass R.E.M. ihren Umbruch vollzogen haben: Weg sind die jangleigen E-Gitarren, dominiert wird der Track von folkigen Akustikgitarren. Langsam und getragen (aber wahrhaftig mit einem wortwörtlichen Drive) mäandert der Opener in Richtung eines großen, aber nicht unpassenden Finales und setzt den Ton für den Rest des Albums.

Noch deutlicher wird das beim darauffolgenden Try Not To Breathe, einem Lied, dass musikalisch an Drive anknüpft und inhaltlich die immer wiederkehrenden Themen des Albums – Trauer, Verlust und Tod/Suizid – aufgreift. I will try not to breathe / This decision is mine / I have lived a full life / And these are the eyes that I want you to remember: Vorgetragen vor dem Hintergrund einer ähnlich düsteren Instrumentalisierung wird der Song damit zu einem der traurigsten, aber schönsten des gesamten Albums und zeigt, wie weit sich R.E.M. inzwischen an neue musikalische Ufer gewagt haben.

Doch das fällt nicht direkt auf: Das nachfolgende The Sidewinder Sleeps Tonite ist was Sound, Tempo und Inhalt angeht eine Hommage an die frühen Alben der Band: Uptempo-Jangle-Pop der mit einem Augenzwinkern auf die I.R.S.-Zeiten zurückblickt und genauso gut auf den Alben Lifes Rich Pageant oder Document zu finden sein könnte.

Ist Automatic For The People also ein genauso großer Stilmix wie der Vorgänger Out Of Time? Überhaupt nicht. Kaum ist Sidewinder ausgeklungen, setzt der wohl bekannteste Song des Albums (und neben Losing My Religion wahrscheinlich auch der Band) ein: Everybody Hurts. Selten klangen zwei Dur-Akkorde so herzzerbrechend. Dass dabei Nazareth mit ihrer Version des Everly Brothers-Liedes Love Hurts Pate standen, tut dabei der Musikalität des Stückes keinen Abbruch. Vielmehr ist Everybody Hurts dank seiner Instrumentalisierung, die es schafft gleichzeitig minimal und doch üppig zu klingen ein Beweis dafür, dass hier vier Menschen auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität zusammenarbeiten. Dabei waren sie freilich nicht alleine: Der Led Zeppelin-Bassist John Paul Jones half bei mehreren Titeln des Albums – so auch hier – als Arrangeur für die Orchestralbegleitung aus und trug dadurch nicht unwesentlich zum Sound der Platte bei. Abgesehen vom direkt wiedererkennbaren Sound, hilft auch der sehr eingängige Everybody hurts / Everybody cries / Sometimes-Refrain und das ikonische Musikvideo, das Menschen zeigt, die zusammen allein sind, dabei, dass der Song zu einem zeitlosen Klassiker geworden ist.

Das an Everybody Hurts anschließende New Orleans Instrumental No. 1 ist an dieser Stelle sehr notwendig um einmal durchatmen zu können. Das in New Orleans aufgenommene Stück besteht allein aus E-Piano, Slide Guitar und Kontrabass und hilft dabei, sich etwas zu sammeln und gleichzeitig die Stimmung des Albums aufrechtzuerhalten. New Orleans war dabei nur ein Zwischenstopp auf der Reise von R.E.M. während der Aufnahme des Albums: So wurden die meisten Demos in Paisley Park (dem eigenen Studio von Prince) und das finale Album in  Miami, Atlanta, Woodstock und ihrer Heimatstadt Athens aufgenommen.

Direkt im Anschluss geht es düster und im wahrsten Sinne bittersüß weiter: Readying to bury your father and your mother / What did you think when you lost another? – das Thema Verlust bleibt auch in Sweetness Follows omnipräsent. Und doch ist das Lied nicht allein düster, sondern bietet auch – wie viele andere Titel des Albums – einen hoffnungsvollen Ausblick. Getragen von einem Cello, das zusammen mit einer Orgel das Fundament des gesamten Liedes bildet, ist Sweetness Follows eben nicht nur eine Meditation über persönliche Verluste sondern rät darüber hinaus: It‘s these little things, they can pull you under / Live your life filled with joy and wonder / I always knew this altogether thunder / Was lost in our little lives / Oh, but sweetness follows.

Konkreter als die zuvor eher abstrakte Behandlung der Themen von Automatic For The People wird es in Monty Got A Raw Deal. Der folkigste Song des gesamten Album hat das Leben des Schauspieler Montgomery Clift zum Thema, welcher nach einem Autounfall in eine gesundheitliche und persönliche Abwärtsspirale geriet und aus dieser letzten Endes nicht mehr herausfand. Inhaltlich eines der bedrückendsten Stücke von R.E.M. (wahrscheinlich der bedrückendste nach Country Feedback vom Vorgängeralbum Out Of Time) ist es gleichzeitig das am besten komponierte des gesamten Albums und ist ein wirkliches und viel zu wenig beachtetes Juwel.

Was folgt ist der musikalisch und inhaltlich härteste Cut des gesamten Albums: Ignoreland ist nicht nur ein ziemlicher Rock-Brecher, der auf den ersten Blick so gar nicht auf Automatic For The People zu passen scheint, es ist auch eine wütende Anklage gegen die Politik von Ronald Reagan und George H. W. Bush, gerade in Bezug auf die Aufrüstung sowie den Umgang mit der aufkommenden AIDS-Epidemie (und genereller Homophobie). Warum eine eigentlich politisch sehr aktive Band wie R.E.M. sich auf einem ansonsten nicht explizit politischen Album sich dann in einem Lied doch so explizit äußert, macht Sinn wenn man bedenkt, dass das Album im Oktober 1992 veröffentlicht wurde. Im November des selben Jahres waren in den USA wieder Präsidentschaftswahlen und die Befürchtung innerhalb der Band war, dass sich in diesen George H. W. Bush durchsetzen würde, weswegen man Ignoreland als Potestsong verfasste. (Bush sollte in den Wahlen gegen Bill Clinton verlieren, inwiefern Ignoreland dafür verantwortlich ist, sei dahingestellt.)

Nach so einem aufbrausenden Lied, braucht es wieder ein wenig Beruhigung und diese liefert das folgende Star Me Kitten. Das ätherisch vor sich hin wabernde Lied ist dabei leider der Tiefpunkt des Albums und ist vor allem dabei behilflich, die anderen Songs stärker strahlen zu lassen.

Und so folgt nach dem dankenswerter Weise recht kurzen Star Me Kitten mit Man On The Moon einer der eingängigsten Titel des Albums. Anhand des Schauspielers und Musikers Andy Kaufman wird das Thema der Dualität von Leben und Tod skizziert, wobei jedoch ein anderer Blickwinkel eingenommen wird, als in Sweetness Follows. Wenn man so möchte, ist Sweetness Follows das Yin zu Man On The Moons Yang. Man On The Moon war übrigens auch Namensgeber (und Titelsong) des gleichnamigen Films über Kaufman (gespielt von Jim Carrey). Prominent ist das Lied aber auch wegen seinem (gewollt) inflationärem Gebrauch von Yeahs. Laut R.E.M.-Frontmann Michael Stipe beruhte die Idee darauf, dass er versuchte mehr Yeahs in einem Lied unterzubringen als sein Freund Kurt Cobain von Nirvana. Mit Erfolg: Man On The Moon beinhaltet 56 Yeahs und Lithium von Nirvana „nur“ 42.

Nachdem R.E.M. die letzten Töne ihres radiotauglichsten Songs des Albums haben ausklingen lassen, kommt ein Debüt der Band: Mit Nightswimming lassen sie erstmals die „klassischen“ Instrumente einer Rockband in der Ecke stehen und versuchen sich an einer Pianoballade. Und das mit Erfolg. Balladen sind gerne vermintes Gebiet, in welchem sich Bands sehr schnell blamieren können, (ganz klar keine Hörempfehlung ist das entsetzliche Brandon von Mötley Crüe) aber im Falle von R.E.M. geht die Rechnung voll und ganz auf: Nicht nur passt der minimalistische Ansatz – allein ein Piano und ein paar eingeworfene Streicher – perfekt zum Rest des Albums, sondern auch Michael Stipes bewusst brüchig vorgetragener Schwanengesang auf eine vergangene Jugend fügt sich nahtlos in das Konzept des Albums ein.

Wie beendet man ein solches Album? Bleibt man düster und melancholisch? Treibt man besagte Melancholie vielleicht noch auf die Spitze? Oder entlässt man sein Publikum vielleicht mit einer hoffnungsvollen Note? R.E.M. haben sich auf Automatic For The People für letzteres entschieden. Find The River ist nicht nur ein unglaublich schöner Closer, sondern auch mein persönlicher Lieblingssong des Albums. Musikalisch und textlich stimmt hier alles: Ein perfekt eingesetztes Akkordion untermalt den zerbrechlich wirkenden Folksong und auch textlich ist er – trotz aus der Not geborenen Wortneuschöpfungen von Michael Stipe („Speed-meter“, „Rose of hay“) – einer der stärksten Momente des Albums: Pick up here and chase the ride / The river empties to the tide / All of this is coming your way – nach 45 Minuten voller Trauer und Melancholie endet Automatic For The People auf einer überraschenden, aber auch dringend nötigen lebensbejahenden Note.

R.E.M. sollten nie wieder die kreativen (und kommerziellen) Höhen von Automatic For The People erreichen. Auf dem Nachfolgealbum Monster erfanden sie sich als ernste Rockband neu, und ihre späteren Alben waren trotz augenscheinlicher Qualität nicht ansatzweise so kohärent wie Automatic For The People. Trotzdem blieben sie bis zu ihrer Auflösung eine der wesentlichen Rockbands der 90er und 2000er. Jedoch war gerade Automatic For The People ein entscheidender Moment für die Entwicklung der Band im Speziellen und der Musik im Allgemeinen. Die leise Antwort auf den Grunge sollte auch diesen letzten Endes zu Grabe tragen. Auf eine tragische Weise wird dies durch den Suizid Kurt Cobains versinnbildlicht. Das Album, das in den letzten Momenten seines Lebens lief? Automatic For The People.

 

 

Solltet ihr selbst oder euch nahestehende Menschen von Suizidgedanken betroffen sein, sucht bitte umgehend Hilfe. Die anonymen Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar.

Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222

www.telefonseelsorge.de

Telefonberatung für Kinder und Jugendliche: 116 111

www.nummergegenkummer.de

 

Foto: R.E.M. / Warner Bros.