Musik | Hörtest
Radiohead – OK Computer
Es ist 1997, eine Band aus Oxford veröffentlicht ihr drittes Album. Soweit also nichts Besonderes; ihr Debüt hatte einen großen Hit, das folgende Album erhielt gute Kritiken, war aber kommerziell enttäuschend. Als die Plattenfirma das neue Material zu hören bekommt, ist sie nicht davon überzeugt, dass die kommerziellen Erwartungen erfüllt werden würden. Die Vorzeichen stehen schlecht. Doch dann kommt der 21. Mai und damit der Tag der Veröffentlichung. Was erscheint, ist ein Album, das von Kritikern und Fans direkt als ein Klassiker und Meilenstein der Rockmusik angesehen wird und die Band zu einer der wichtigsten des Genres machen soll. Die Band heißt Radiohead und das Album OK Computer.
25 Jahre ist es also her, dass OK Computer veröffentlicht wurde und immer noch gilt es als wegweisendes Album. Zentrales Thema in diesem ist der Konflikt zwischen Mensch und Technik. Dieses Thema ist natürlich nichts neues und war schon in vielen Liedern und Alben anderer Bands vorher zu finden. Doch OK Computer hat eine ganz eigene Herangehensweise an die Thematik. So kommt das Album ganz ohne die althergebrachten Klischees aus, sondern formuliert seine Technikkritik zurückhaltender, aber nicht weniger eindringlich. Der Opener Airbag befasst sich mit einem schweren Autounfall in den Frontmann Thom Yorke verwickelt war (es ist jedoch nicht der erste Song, in dem er seine Angst vor Autofahrten behandelt; siehe die B-Seite Killer Cars von der High & Dry-Single). In Fitter Happier listet eine Computerstimme Ziele eines selbstoptimierten Menschen auf und kommt zu einem zynischen Urteil („A pig / in a cage / on antibiotics“).
Lucky, ein erster Vorgeschmack auf das, was kommen sollte, thematisiert ähnliches. Bereits 1995 als Radioheads Beitrag zum Charity-Album The Help Album erschienen, handelt das Lied von einem imaginierten Flugzeugabsturz. Musikalisch zeigt der Song eine deutliche Weiterentwicklung des Sounds des Vorgängeralbums und beweist, wie der The Bends-Song Bones klingen könnte, wenn man mehr Zeit und Geld für die Aufnahme hätte.
Dass sich OK Computer zu einem bahnbrechenden Album entwickeln würde, war im Vorfeld wenigen klar, auch nicht der Band. Als Radiohead nach der Tour zum Vorgängeralbum The Bends sich daran machte, neues Material aufzunehmen, war lange ungewiss, wie man sich aus der kreativen Sackgasse herausmanövrieren sollte, in die man geraten war. Die Antwort: Das Album wurde nicht wie üblich in einem Studio aufgenommen, sondern in St. Catherine’s Court, einem mittelalterlichen Schloss im Besitz der Schauspielerin Jane Seymour. Unterstützung bei der Aufnahme hatten sie von Nigel Godrich, der bereits auf The Bends als Toningenieur in Erscheinung trat und bei den Sessions zu OK Computer erstmals als Produzent eines Radiohead-Albums fungierte – eine Kooperation, die bis heute anhält und Godrich unter anderem zu einem Teil des Thom Yorke-Nebenprojekts Atoms For Peace (neben Flea von den Red Hot Chili Peppers) gemacht hat. Godrich war es auch, der die Aufnahmen in St. Catherines Court durch sein Know-How erst möglich gemacht hat. Dieser Ortswechsel sorgte dann nicht nur durch sein Ambiente für einen Inspirationsschub der Band, das Gebäude trug durch seine Akustik auch zum besonderen Klang des Albums bei. Besonders fällt das bei Let Down auf, einem Lied, das im riesigen Ballsaal des Anwesens aufgenommen wurde.
Einer der am meisten beachteten Songs auf dem Album ist sicherlich Paranoid Android, ein sechseinhalbminütiges Epos, der zwischen Hardrock, choralen Segmenten und folkigen Passagen hin- und herwechselt. Schon von Beginn an wurden Parallelen zu Bohemian Rhapsody von Queen und Happiness Is A Warm Gun von den Beatles gezogen und Paranoid Android muss sich auf jeden Fall nicht vor den anderen beiden Songs verstecken. Die Studioversion des Songs ist dabei schon sehr zusammengekürzt: Als Radiohead vor den Aufnahmesessions zu OK Computer ihr neues Material vor Publikum testen wollten, begleiteten sie Alanis Morissette als Support auf ihrer Tour. Die hierbei dargebotene Version des Songs war gut doppelt so lang und beinhaltete unter anderem ausufernde Orgelpassagen des Radiohead-Gitarristen und -Keyboarders Jonny Greenwood.
Die Tour mit Alanis Morissette führte, bei allem Nutzen, den sie für die Band hatte, aber auch zu Verwunderung und Sorgen darüber, wie sich die Band entwickeln würde. Diese Sorgen wurden nochmals verstärkt, als Radiohead ankündigten, den Soundtrack für Baz Luhrmann’s Film Romeo + Juliet (mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen) zu schreiben. Das fertige Stück – Exit Music (For A Film) – sollte sich dabei als wegweisend für die Band erweisen. Die Kombination aus akustischen Instrumenten und Synthesizern ist etwas, was sich durch ihre weitere Karriere fortsetzen sollte. So ist diese Kombination von Instrumenten eine musikalische Eigenart, die inzwischen als „typisch Radiohead“ angesehen wird, und weswegen Bands wie Coldplay, Muse oder alt-J auch gerne mit dieser verglichen werden.
Radiohead selber haben aber natürlich auch musikalische Vorbilder: Karma Police, der größte Hit des Albums, ist musikalisch sehr nah an Sexy Sadie vom weißen Album der Beatles dran. Und das ist nicht der einzige Song, der zeigt, dass sie Fans der Band aus Liverpool sind: Climbing Up The Walls – das mit Abstand düsterste Lied des Albums – besticht nicht nur durch Found Sounds, Samples und einen großartigen Drumsound, der Song beinhaltet auch ein Streicherarrangement, welches einerseits von Krzysztof Pendereckis Threnodie an die Opfer von Hiroshima inspiriert ist und andererseits laut Jonny Greenwood besser sein sollte als die Streicher vom Beatles-Klassiker Eleanor Rigby.
Climbing Up The Walls läutet den düsteren Abschluss des Albums ein. Was folgt, ist No Surprises. Während Climbing Up The Walls wie der Rest des Albums eine enorme Kälte ausstrahlen, ist dieses Lied eines der warmherzigsten in Radioheads gesamten Katalog – zumindest vom Klang her. Inhaltlich sieht die Sache aber anders aus: No Surprises setzt sich mit Selbstmord auseinander, Thom Yorke beschwert sich über „A heart that’s full up like a landfill“, „a job that slowly kills you“ und „bruises that won’t heal“. Die Lösung? „A quiet life, a handshake with carbon monoxide“. Der Text, genau so wie die von einem sehr einprägsamen Gitarrenriff getragene und mit einem Glockenspiel ausgeschmückte Musik machen No Surprises zu einem der schönsten (und traurigsten) Radiohead-Songs überhaupt.
Anschließend folgt das bereits erwähnte Lucky, was nicht weniger düster ist, bevor das letzte Lied des Albums, The Tourist, zu hören ist. The Tourist ist eine deutliche Entschleunigung am Ende eines ohnehin nicht gerade schnellen (wenn man von dem Song Electioneering absieht) Albums. „Hey man, slow down“ ruft Thom Yorke immer wieder, bevor das Album mit einem hellen Glockenton endet.
„Hey man, slow down“ – diesen Rat hätte die Band besser selbst befolgen sollen: Nach dem Release folgte die größte Welttour der Band, inklusive einem von der Band als „desaströs“ bezeichneten Auftritt als Headliner auf dem legendären Glastonbury-Festival, welcher jedoch in Retrospektive als eine der besten Shows in der Geschichte des Festivals angesehen wird. Am Ende der Tour war die Band ausgebrannt und stand am Rand des Zusammenbruchs. Es wurde ruhig um sie – und was dann folgte, war die größte Kehrtwende in der Geschichte der Rockmusik: Kid A sollte eine Herausforderung werden, sowohl für die Fans als auch die Kritik. Und es wurde der nächste Klassiker. Aber davon in Zukunft mehr.
Jetzt ist OK Computer also 25 Jahre alt. Viel ist seitdem passiert: Die Band hat ihren Platz im Musik-Olymp zementiert, die Welt wurde mehrfach auf den Kopf gestellt und die Hörgewohnheiten von Musikfans weltweit haben sich drastisch verändert. Und doch stoßen immer wieder Leute auf dieses Album und lassen sich von der schieren Qualität der Lieder und dem Zusammenspiel seiner Einzelteile faszinieren. Auch nach 25 Jahren hat das Album nichts von seiner Relevanz verloren. Egal ob von einem musikalischen, einem technischen oder einem inhaltlichen Standpunkt: OK Computer gilt immer noch als wegweisendes Album und wird zurecht als Klassiker angesehen.
Foto: Radiohead / Parlophone