Musik | Hörtest
San Holo – bb u ok?
Ein riesiges Transparent mit hunderten Schriftzügen, welche nur aus einer Frage bestehen, hängt an der Rückwand eines Raumes. Die Frage – „bb u ok?“ – ist gleichzeitig der Name des Albums, welches wenige Minuten später auf einen Plattenspieler aufgelegt wird.
Dahinter steht ihr Produzent im schlabberigen, offen getragenen Karohemd. Mit schwarzem Shirt, schwarzer Basecap und einem Vollbart mit akkurat geschnittenem Schnäuzer passt er in das stereotypische Bild eines Millenial-Hipsters.
Sander van Dijk, der unter seinem Künstlernamen San Holo bekannt ist, macht einen zufriedenen Eindruck und lächelt gerührt. Am Abend des Releases moderiert der DJ und EDM-Produzent eine Listeningparty zu bb u ok?, seinem zweiten Album.
Das Letzte mit dem klangvollen Namen Album1 erschien 2018 und verfolgt zu großen Teilen einen klassischen EDM-Ansatz: Elektronische Beats mit charakteristischen Wiederholungen werden von zahlreichen Gesangs-Features verfeinert. San Holo schafft es aber schon innerhalb seiner ersten großen Veröffentlichung synthetische Sounds mit seinem Gitarrenspiel zu vereinen.
Auch in bb u ok? bleibt er bei der bekannten Methode und bringt zusammen, was auf den ersten Blick nicht füreinander geschaffen war: Gitarrenmelodien mit Lo-Fi Charakter bauen viele seiner Songs auf, liefern eingängige Chorus-Melodien oder Akkordfolgen. Die elektronischen Elemente entwickeln die Titel weiter, verbinden das Ende eines jeden Songs mit dem Anfang des nächsten und bringen den Rhythmus mit. Indierock trifft EDM. Menschlichkeit trifft Maschine.
So legt sich Sans Akustikgitarre im instrumentalen Opener i am thinking of you über einen atmosphärischen Synthesizer und gesampeltes Vogelgezwitscher. Schritt für Schritt wird der Sound elektronischer und die Gitarre rückt immer weiter in den Hintergrund.
Im Vordergrund steht dafür immer die persönliche Botschaft. bb u ok? sei als Brief an die Hörenden oder als Notiz an das eigene Selbst zu verstehen, teilt San der Listeningparty auf der Streamingplattform Twitch mit.
Zu Höchstzeiten schalten fast eintausend Zuschauer:innen ein. Daneben gibt es die Möglichkeit, das eigene Gesicht über einen offenen Zoom-Call im Stream zu zeigen. Dabei präsentieren sich hauptsächlich junge Menschen, die zur Musik aus dem Hause bitbird, San Holos selbstgegründetem Label, tanzen.
Währenddessen rezitiert der Chat Sans Motto „stay vibrant“. Positivity ist das Wichtigste. Die persönliche Stimmungslage wird von San mit einer Prozentzahl hinter seinen Social Media Accounts angegeben. Nimmt diese Zahl zu, spricht er von einem „Boost“.
Der Song heal (↑%) verspreche einen solchen Boost, indem die zentrale Melodie nach der Hälfte des Tracks um einen Halbtonschritt nach oben moduliert wird.
Negative Gefühle gehören aber eben auch zum Leben. Songs wie i get lonely around people, too zeigen wie minimalistische Drumbeats und ein eingängiges Thema mit nur einer Textzeile Emotionen vermitteln können.
Features und Kooperationen sind auch mit von der Partie: In den Songs new one und find your way liefert der britische Singer-Songwriter Bipolar Sunshine die Vocals. In i just wanna fucking cry persiflieren San und The Nicholas die Catchphrase „everybody fucking jump” und an FEELS RIGHT war Editors-Frontmann Tom Smith beteiligt. Die Band American Football gibt dem Album mit thoughts and chemicals zudem einen kleinen Postrock-Einschlag.
Die größte Feature-Überraschung bereitet jedoch Rivers Cuomo mit dem Song wheels up, der den Vibe eines Weezer-Songs mit intensiven Drops im Chorus kombiniert.
Zur Singleauskopplung you’ve changed, i‘ve changed mit Gesang von Chet Porter bemerkt San, dass jedes Label sich um den Song gerissen habe.
Ja. Der dynamische Einstieg mit der zentralen Melodie, der schrittweise Aufbau an Intensität und der Kollaps in ruhige Gesangspassagen lassen keinen Zweifel aufkommen. Das Wechselspiel von Tempo und Intensität lassen den bombastischen Chorus mit knallender Kickdrum und omnipräsenter E-Gitarre noch mehr herausstechen.
Das Album schließt mit one more day, welches die Melodie der Albenintro i am thinking of you aufgreift und um Gesang erweitert. Das Feature mit Mija und Mr. Carmack überzeugt besonders durch die melancholischen Stimmen, welche durch Anrufe aufgenommen wurden und ihnen damit einen Lo-Fi-Charakter verleihen.
Vor dem Drop in den Chorus sei die Verbindung von Sans Gesangsaufnahme zusammengebrochen. Ein kurzes Stottern, dann Stille. Das Ende der Welt ist gekommen.
Der melodiereiche Trap auf bb u ok? strotzt vor unendlicher Melancholie. Einsamkeit, Kummer, Angst, aber auch kleiner Lichtblicke. Es gibt keine Ausreißer, die den Hörgenuss einschränken. Es geht sogar so weit, dass sich sagen lässt: Was Coldplay mit ihren ersten beiden Alben für den Pop-Rock waren, ist San Holo für elektronische Tanzmusik. Eben tanzbare Musik für die, die sonst nur neben der Tanzfläche stehen.
Bild: San Holo / bitbird