Musik | Hörtest
The Clash – London Calling
Nicht nur ein ikonisches Cover, sondern ein Statement
Unknown Pleasures von Joy Division, Abbey Road von den Beatles oder Nevermind von Nirvana. Was haben diese Alben gemeinsam? Richtig, sie gelten alle als Rock-Klassiker. Aber noch viel offensichtlicher: All diese Alben besitzen Cover, die zu eigenen Bildikonen geworden sind.
In diese Liste reihen sich nahtlos The Clash mit ihrem Dezember 1979 veröffentlichten Doppelalbum London Calling ein. Zu sehen: Ein schwarz-weiß Foto des Bassisten Paul Simonon beim Zertrümmern seines Basses während eines Konzertes. Gerahmt wird das Ganze von links und unterhalb durch den pink-grünen Albumtitel. Eine Anspielung auf das erste Studioalbum Elvis Presleys. (https://bit.ly/3qgUzmA)
Und spätestens hier wird klar: The Clash führen zu Ende, was der „King“ einst ins Leben gerufen hat. Das Londoner Quartett um den charismatischen Joe Strummer und Melodie-Enthusiasten Mick Jones will das letzte Statement der bisherigen Rockmusik setzen. Die Sex Pistols wollten mit ihrem 1977 veröffentlichten Klassiker Never Mind the Bollocks die angestaubte Rockmusik mit besungener Anarchie und radikalem Sound zum Einsturz bringen. Doch ihr Licht verglüht bereits Ende 1978. Für viele das Ende des Punks.
Doch The Clash gehen einen anderen Weg: Sie wollen den Punk unsterblich machen, ihn als Geisteshaltung von musikalischen Ketten befreien und beweisen, dass Punk viel mehr als eine Kurzerscheinung ist. Drei Akkorde und Aggression werden gegen durchdachte Melodien und positive politische Wut eingetauscht. Nur so kann eine Zäsur geschaffen werden, die den Zeitgeist überdauert.
Vielfalt statt Engstirnigkeit als letzte Überlebenschance.
Bereits der erste Track London Calling und mein persönlicher Anspieltipp malt ein eindringliches Bild in meinem Kopf: Das dystopische London in Zeiten einer nuklearen Bedrohung, gesellschaftlicher Bedrohungsangst und Polizeigewalt. Auch die eigene Rolle als Zeiterscheinung im untergehenden Punk wird verhandelt:
„London Calling, Now don‘t Look to us / Phoney Beatlemania has bitten the dust.“
Immer wieder ziehen mich das stampfende Stakkato-Gitarrenriff und die Wiederholung des namensgebenden Titels in den Bann. Eine Anspielung auf das Sendesignal der BBC World Service zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Hier geht es um die existenziellen Fragen: Untergehen oder Überleben?!
Auch bei der Aufnahme ging es für The Clash um Alles oder Nichts: Nach einer US-Tour trennen Sie sich von ihrem Manager, müssen ihren Proberaum verlassen und die Hauptsongschreiber sind von einer Schreibblockade geplagt. Aufgrund andauernder Streitigkeiten mit Ihrem Label sind sie zudem finanziell mager aufgestellt. Also ziehen Sie in die in einer Garage gelegenen Vanilla Studios, um sich nur auf die Musik zu konzentrieren. Sie covern Reggae, Rockabilly und Popsongs und lösen sich akustisch vom Punkrock.
So finden The Clash zur Musik zurück und nehmen das Album in den Wessex Studios auf. Viele Songs werden in wenigen Takes final aufgenommen. Die Band legt alle Scheuklappen ab und reichert Ihren eigenen Sound mit den Stilen der vorherigen Cover an. Die Platte spiegelt für mich in diesem Sinne die Quintessenz des Punk als Geisteshaltung wider: Die eigene musikalische Berechenbarkeit wird vergraben.
Nicht nur musikalisch ein stimmiger Flickenteppich
Es fällt mir schwer, London Calling als Gesamtwerk in eine musikalische Schublade zu stecken. Aber das verlangt die Platte auch nicht wirklich; gerade diese fehlende Schublade macht das Album für mich so rund. Besonders gefällt mir dabei die Arbeit des Schlagzeugers Topper Headon: Immer präsent, aber nie überladen bedient er songdienlich jeden geforderten Stil: Sei es Punk, Rock n`Roll, Reggea, Ska oder Pop.
Auch inhaltlich ist das Album breit gefächert: Einer meiner Lieblingssongs, Guns of Brixton, greift dabei die im namensgebenden Stadtteil herrschenden Lebensbedingungen voller Gewalt und Armut auf. Clampdown wagt sich noch weiter aus einer beobachtenden Perspektive heraus und ruft zum Hinterfragen von Autoritäten und dem Kampf um die eigenen Rechte auf. Besonders schätze ich dabei den leicht schiefen und authentischen Gesang von Joe Strummer:
„Let fury have the hour, anger can be power / D‘you know that you can use it?“
Auch einer der poppigsten Songs, Lost in the Supermarket, besingt ernsthafte Themen wie blinden Konsum auf eine eingängige Art und Weise. Aber auch leichtfüßige Inhalte finden auf London Calling Platz, so z. B. auf Train in Vain, ein eingängiger Lovesong, dessen Riff mir auch nach dem Hören im Ohr hängen bleibt. Songs wie Koka Kola oder Four Horsemen, die beim ersten Hören belanglos wirken, entfalten mit jedem Hören zunehmend ihren Charme. Der Reiz liegt für mich an der Anordnung der Songs im Gesamtwerk, das einem mit der Zeit als Ganzes ans Herz wächst.
Ein Album, das die Band überdauert
Kurzum: The Clash haben mit London Calling ein zeitloses Album erschaffen und den Mut bewiesen, auch szeneinterne Konventionen über Bord zu werfen. Dadurch haben Sie in meinen Augen den Punk von seinen musikalischen Fesseln befreit und sein Weiterleben gewährleistet. Bis heute taucht London Calling in zahlreichen Listen über die besten Alben aller Zeiten auf den vorderen Plätzen auf. In der kurzen Karriere der Band gilt das Album als Opus Magnum und ist für mich bis heute ein Referenzwerk in Sachen Aussagekraft, Unverschlossenheit und Risikofreude.
Foto: The Clash, Columbia Records, Epic Records und Elvis Presley, RCA Victor